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Es ist ein kalter, grauer Novembermorgen. Pendlerinnen und Pendler in dicken Daunenjacken steigen an der Station Universität aus der S-Bahn, rücken ihre Wollmützen zurecht. Gemächlich bewegt sich der Menschenpulk die Stufen des Bahnhofs zum Campus hinauf. Dabei löst sich plötzlich ein junger Mann aus der Menge und lacht laut auf. Eine Frau streift grinsend den Handschuh an ihrer rechten Hand ab, um Handybilder zu knipsen. Und zwei Mädchen bleiben kichernd am Treppengeländer stehen.
Der Grund zur Freude: An den Wänden der defekten Rolltreppe nebenan hängen mit Klebestreifen rund 200 lustige Bilder und Botschaften im Stil populärer Internetmemes. »Techniker ist informiert«, steht auf einem Papierfetzen. Auf einem anderen Zettel sind zwei rote Knöpfe abgebildet, mit einem schwitzenden Comic-Kopf und der Entscheidungsfrage: »Treppen steigen« oder »nach Hause fahren«? Auch eine Hommage an eine bekannte baden-württembergische Aufkleber-Kampagne findet hier ihren Platz: »Nett hier. Aber sind Sie schon mal mit der Rolltreppe gefahren?«
Der Zettelprotest hat Tradition. Seit vielen Jahren erlauben sich Studentinnen und Studenten dieses kollektive Kreativwerden, wenn wieder einmal eine der Rolltreppen an der Uni-Haltestelle stillsteht. Dann werden Wände, Säulen und Schrankenzäune mit Memes beklebt. Bisher war die Deutsche Bahn ziemlich genervt von diesem Treiben, Mitarbeiter haben die Zettel immer wieder von der Wand gerissen – und die Bahn warf den Mitmachenden sogar Sachbeschädigung vor.
Diesmal aber dürfen die Blätter hängen bleiben – und das beste Meme soll sogar mit einem iPhone belohnt werden, wie zuerst der »SWR« berichtete. Die Bahn hat angekündigt, die Bildchen für einen Wettbewerb zu fotografieren und die besten Memes auf dem Instagram-Kanal der S-Bahn Stuttgart zu veröffentlichen.
»Das bringt mich schon oft zum Schmunzeln«
Jens Fischlein, der in Wirklichkeit anders heißt, wundert es, dass sich die Bahn erst jetzt so entspannt zeigt: Er hält ihre bisherigen Reaktionen auf den Papierprotest für übertrieben. »Ich finde das ist eine witzige Aktion«, sagt der Student der Hochschule der Medien dem SPIEGEL. »Eine Sachbeschädigung sehe ich da nicht.« Die Zettel würden ja mit Tesafilm aufgehängt. Außerdem klebten die Memes ja wirklich nur dann an der Wand, wenn wieder eine Rolltreppe kaputt sei. »Das bringt mich schon oft zum Schmunzeln«, sagt der 24-Jährige.
Bereits vor knapp zwei Jahren hatte Fischlein das Bild einer beklebten Rolltreppe aus der derselben Bahnstation bei Reddit hochgeladen und damit einen Hit gelandet. Der Beitrag sammelte mehr als 10.000 positive Bewertungen und wurde rund 400 Mal kommentiert. Damit schaffte es Fischlein in den offiziellen Jahresrückblick der Plattform. »Das Bild bei Reddit war nur für Freunde gedacht, dann ging es viral«, sagt er. Damals wie heute sei es in Stuttgart ein ewiges Hin und Her: Eine Rolltreppe geht kaputt. Studierende hängen Zettel auf. Bahn-Mitarbeiter hängen die Memes ab. Und drei Stunden später sei alles wieder plakatiert.
Humorvoller Protest mit einem ernsten Anliegen
Hinter der humorvollen Aktion steckt auch ein ernstes Anliegen. »Da sind jeden Tag Tausende unterwegs, nicht nur Studenten«, erklärt Fischlein. »Da sieht man auch ältere Menschen auf dem Weg nach oben.« Mehrmals im Jahr sei eine Rolltreppe kaputt, meist dauere die Reparatur wochenlang. Das ist vor allem dann bitter, wenn auch noch der Aufzug defekt ist – wie es derzeit beim Lift neben der plakatierten Rolltreppe der Fall ist.
Fotostrecke
Eindrücke vom Meme-Protest in Stuttgart
Foto: DER SPIEGEL
Geht es nach Ulrich Heck vom Verkehrsclub Deutschland (VCD), setzt die Bahn falsche Prioritäten. »Selbstverständlich ist es Aufgabe der Bahn, hier die Rolltreppe schnellstens wieder zu reparieren«, sagt Heck dem SPIEGEL. »Da nützen auch keine Kommunikationskampagnen.« Viele Menschen seien mobilitätseingeschränkt und darauf angewiesen, dass Rolltreppen und Aufzüge funktionieren. Man könnte das Personal, das sich um den Wettbewerb kümmert, auch einsetzen, um die zuständigen Technikfirmen zu betreuen, sagt Heck.
Das Grundübel liegt ihm zufolge bei der Finanzierung des öffentlichen Verkehrs, der in den vergangenen Jahren stark vernachlässigt worden sei. »Wir hoffen, dass die Politik dies erkannt hat und sich das in Zukunft ändert«, sagt Heck. Allerdings lobt der Verkehrsaktivist den Umgang der Deutschen Bahn mit Kritik. »Sie versucht dem inzwischen vorhandenen Spott, der sich insbesondere hier an der Universität mit den Memes äußert, mit Humor zu begegnen.«
Der Wettbewerb läuft noch einige Wochen
Ein Sprecher der Deutschen Bahn teilt dem SPIEGEL mit, das Unternehmen bemühe sich, mobilitätseingeschränkten Fahrgästen freien Zugang zum Nahverkehr zu bieten. In der Rolltreppe, die momentan defekt ist, hat sich nach Bahn-Angaben eine Jacke verheddert. Dabei seien unter anderem 14 Stufen, die Führungsschiene, mehrere Sensoren und die sogenannte Kammplatte beschädigt worden, heißt es.
In der Woche vor Weihnachten soll der Schaden behoben sein, teilt die Bahn außerdem mit. Die Aufzüge an der Haltestelle würden gerade erneuert. An Gleis zwei sei der Lift bereits ausgetauscht worden: »Nun erneuert die DB auch den Aufzug an Gleis eins.« Das dauere wohl noch bis Ende Dezember. Insgesamt koste der Austausch rund 630.000 Euro.
Kurz vor Weihnachten endet auch der Wettbewerb – und der König der Rolltreppen-Memes soll gekürt werden. Wie genau das ablaufen soll, ist aber noch unklar. Schließlich schreibt niemand seine Telefonnummer auf einen lustigen Zettel. Auch die Bahn weiß noch nicht so recht, wie der Sieger ermittelt werden soll. »Die Deutsche Bahn wird mit den Studierenden Kontakt aufnehmen, wie das kreativste Meme gefunden und prämiert werden kann«, sagt ihr Sprecher.
